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Chapter 98


Die Untersuchung gegen Hartwig ging ihrem Ende entgegen, die Staatsanwaltschaft erhob die Anklage, der Prozeßtermin wurde festgesetzt. Mir war während dieser ganzen Zeit recht übel zumute, und je öfters mir der Herr Staatsanwalt versicherte, daß das Beweismaterial gegen Hartwig erdrückend sei, desto schwerer wurden meine Bedenken. Immer sah ich die blauen, gütigen Knabenaugen Hartwigs auf mich gerichtet, die mir zu sagen schienen: Du Narr, du, glaubst du wirklich, daß ein Mensch wie ich die Fähigkeit hat, armselige Frauen, die ihm kein Leid getan, zu erwürgen, in den Fluß zu werfen, zu vergraben? Wo bleibt deine Menschenkenntnis? Sagst du dir nicht, daß ein Mann wie ich vielleicht einem Impuls folgend ein großes Verbrechen begehen kann, nicht aber fünf überlegte Morde hintereinander?
Einen Tag vor dem Beginn des Prozesses war ich so weit, daß ich aus dem Polizeidienst austreten und öffentlich meine Überzeugung von der Unschuld Hartwigs erklären wollte. In dieser Stimmung begab ich mich hieher, ließ mir nochmals die Briefe der Verschwundenen geben, um sie Buchstaben auf Buchstaben zu prüfen. Es fiel mir wieder nichts an ihnen auf und gegen meine Überzeugung brachte ich sie einem bekannten Graphologen, der auch vor Gericht oft als Sachverständiger erscheint. Ich halte von Graphologie nicht so viel wie die meisten meiner Berufsgenossen, bin überzeugt davon, daß in zahllosen Fällen die Art der Handschrift viel mehr von dem Schreiblehrer beeinflußt ist als vom Charakter, und weiß, daß mancher Justizirrtum auf graphologische Urteile zurückzuführen ist. Auch Professor Hennes, der Graphologe, den ich aufsuchte, konnte mir nichts Wesentliches sagen. 'Es sind die manierierten, affektierten Schriftzüge von Frauen, die sorgfältig schreiben, um auch mit ihrer Schrift einen guten Eindruck zu erwecken,' sagte Professor Hennes. 'Würde es sich um Tagebuchblätter, die nicht für eine zweite Person bestimmt sind, handeln, so ließe sich allerlei herauslesen. Immerhin — etwas fällt mir auf: In allen fünf Briefen liegt der Schlußpunkt nach jedem Satz nicht so tief, wie er sollte, sondern um etwa einen Millimeter zu hoch. Aber das ist nicht so selten und gestattet keine weitgehenden Schlüsse.'
So der Graphologe. Mir aber kamen allerlei seltsame Gedanken, ich ahnte neue Möglichkeiten. Die fünf Briefe waren vom dritten Juni datiert, dem Tag, an dem die Anzeige im 'Generalanzeiger' erschienen war. Die Poststempel hatte ich kaum beachtet, da sie überaus verwaschen und undeutlich waren. Allerdings hatte ich aus drei der Poststempel ersehen, daß die Briefe von dem Postamt Berlin SW 8 behandelt und abgestempelt worden waren, was aber schließlich ganz bedeutungslos ist. Nunmehr aber, durch die Worte des Graphologen auf eine neue Möglichkeit gebracht, nahm ich bei mir zu Hause ein Vergrößerungsglas zur Hand und konnte feststellen, daß alle fünf Briefe Berlin SW 8 aufgegeben waren. Bei drei Briefen konnte ich auch den Datumstempel 3. VI. entziffern, also dritter Juni. Bei den restlichen zwei Briefen war der Datumstempel so undeutlich, daß ich keine genaue Feststellung machen konnte. Je länger ich aber durch mein Vergrößerungsglas auf die blassen, kaum angedeuteten Zeichen sah, desto stärker wurde in mir die Überzeugung, daß es auf diesen zwei Briefen nicht 3. VI., sondern 2. VI. hieß.